Hanoi
 


Er legt diesen Überwurf aus Falten auf seine Stirn, so wie immer, wenn er intensiv nachdenkt, er nippt am Tee, er trommelt mit den Fingern, er brummelt Unverständliches. Dann schließt er die Augen, zehn Sekunden lang, und als er sie wieder aufschlägt, ist sein Gesicht verwandelt. Als sei er weit weit fort gewesen, habe dort etwas aufgehoben und sei anschließend zurückgekehrt. Gut, sagt er, fangen wir an. Der Kugelschreiber zieht einen kleinen Kreis um eine Ecke auf dem Stadtplan: „Das hier ist wichtig.“ Ein neuer, weiter gezogener Kreis, „das ganze Viertel, unbedingt“. Ein Kreuz, ein Rechteck, noch ein Kreis. Le Thiet Cuong ist Maler, einer von Vietnams jungen Wilden, die seit ein paar Jahren durch die Galerien des Westens gereicht werden, seine Zeichen sehen aus wie kleine Skizzen auf dem Sprung zu etwas Größerem. Sind aber nur Hilfestellungen, die Kreise und Kreuze und Rechtecke, Koordinaten zum Auffinden eines bestimmten Hanois. Cuong markiert da auf dem Stadtplan jene Viertel und Gassen seiner Heimatstadt, die ihn, den Maler, inspiriert haben. Die ihm jene Geschichten geflüstert haben, aus denen er seine Bilder machte. Cuong markiert die Seele seines Hanois. Alles andere, sagt er, findet man auch im Reiseführer.´

Seelensuche also, mit dem Stadtplan in der Hand. Auf der Karte sieht Vietnams Hauptstadt ziemlich blau aus: Im Osten fließt der Song Hong, Hanois Hausfluss, im Norden liegt eine gewaltige Wasserfläche, die aus unerfindlichen Gründen Westsee heißt, der Rest ist mit Seen gesprenkelt und Kanälen durchzogen. Was noch? Zwei Brücken. Industrieviertel. Und sternförmig Richtung Stadt strebende Schnellstraßentrassen. Hanoi wird ja gerne als beschauliche Metropole bezeichnet, in der ein genügsames Völkchen Hauptstädter durch antikes Gassenlabyrinth radelt, wo die Männer Vietconghelme tragen und die Frauen allesamt angezogen sind, als seien sie geradewegs aus Hollywoods „Indochine“-Kulissen gestiegen. Aber natürlich haben die Zeitläufte auch vor Hanoi nicht Halt gemacht. Auf der Straße vom Flughafen in die Stadt kann man sehen, wie S-Klassen-Limousinen an Feldern vorbei gleiten, auf denen Bauern Wasserbüffel antreiben. Die Innenstadt wird von den „Dream Machines“ beherrscht, zwei Millionen dieser Mopeds knattern durch die Straßen. Zwischen tausenden staubenden Lastwagen übrigens, die den Bauschutt einer Stadt entsorgen, deren Häusersubstanz zu 70 Prozent als abbruchreif gilt. Wer jedenfalls in seinem Reiseführer liest, Hanoi sei ein ruhiges Drei-Millionen-Städtchen mit sauberer Luft und vielen Fahrradfahrern, hat wahrscheinlich eine neun Jahre alte Ausgabe erwischt.

Der erste Kugelschreiberkringel umzirkelt die ba muoi san pho phuong, die „Stadt der 36 Straßen und Bezirke". Auf den ersten Blick erinnert Hanois Altstadt an eine außer Rand und Band geratene Kreuzung aus verblichener Postkarte („Altes Viertel in Indo-China, 1915“), wucherndem Basar und Nachrichtenmeldungen über Asiens fehlende Bauvorschriften. Weil rechts und links in den Gassen seit schätzungsweise 500 Jahren kein Platz mehr ist, wird längst nach oben erweitert. Jetzt stapeln sich zusätzliche Stockwerke zu kleinen Turmbauten, von deren Ziegeldächern krumme Antennen wie gischtige Zeigefinger in den Himmel ragen. Um auch noch die letzten Quadratmeter zu nutzen, hat man an jedes Häuschen zwei bis drei Balkone geklatscht und die mit Topfpflanzen und Wäscheständern beladen. In den Gassen drängeln sich Taxen, Mopeds, Jeeps und Fahrradfahrer, ein nie abreißender Strom, der sich um die weniger mobilen Verkehrsteilnehmer teilt: Die Eisverkäufer mit ihren Kastenwagen. Der blinde Sänger, der von einem Kind an einem Seil geführt wird. Die Bäuerinnen mit den Gemüsekörben an der Stange über der Schulter. Auf den Bürgersteigen kauern verhutzelte Großmütterchen; ein Radfahrer hat ein Ferkel über den Lenker geschnallt. Die Männer hinter ihren meterhoch beladenen Schubkarren sehen nichts von den Straßenverhältnissen vor ihnen und erinnern an Unglücke auf der Suche nach einem Ort, an dem sie geschehen können. Es ist eng, es ist laut, es ist ganz wunderbar.

Hanois altes Viertel gehört zu jenen Orten, an denen man sich gerne mit Absicht verläuft. Um zwei, drei Ecken herum, in einen kleinen Laden und wieder hinaus und gleich auf die andere Straßenseite, und schon kann man nur noch vermuten, aus welcher Richtung man eben noch kam und in welche man eigentlich wollte. Nur die Läden helfen bei der Orientierung. Die Altstadt ist nach jenen 36 Zünften benannt, die sich im 15 Jahrhundert in den damals 36 Gassen niederließen. 600 Jahre später herrscht noch immer eine gewisse Ordnung: Grabsteine gibt es nur in der Hang Bac, Nähutensilien bloß in der Hang Bo, in der Hang Khoai ausschließlich Mopedsitze, in der Pho Phung Hung Plastikwannen und Eimer in Neonfarben. Und ein Riesensortiment Satellitenschüsseln. Überhaupt meistert Hanois Altstadt den Spagat zwischen den Jahrhunderten. Sie beherbergt verfallene Tempel wie Internetcafés, Webereien im Familienbesitz wie Läden mit raubkopierten DVDs, ein liebenswerter Bastard aus kolonialer Vergangenheit und Plastikzukunft, umweht vom Zwei-Takt-Gemisch der Mopeds und dem leisen Hämmern der Buddha-Steinmetze. Wenn es stimmt, dass die Drei-Millionen-Metropole Hanoi die Seele eines Dorfes besitzt: Kann gut sein, dass man sie hier am ehesten findet.

Am nächsten Morgen: Kaffeepause am Straßenrand. Auf einem dieser winzigen Plastikhocker, die von der Größe her ins IKEA-Kinderparadies gehören, in Vietnam aber selbst stämmig gewachsenen Fremden angeboten werden: Guten Morgen, da, Platz nehmen bitte. Hanoi liebt Kaffee, braut ihn langsam und stark, das dickflüssige Konzentrat träge aus dem oben aufs Glas gesetzten Filter, man kann zuschauen, wie sich die süße Kondensmilch am Boden allmählich färbt. Kaffeetrinken in Hanoi ist wie ein Zuruhkommen. Ein tiefes Durchatmen, während das Brausen der Welt um einen herum für ein paar Minuten innehält. Erst wenn die Wirkung des Koffeins einsetzt, kommt wieder Tempo in das vietnamesische Universum. Dann kann, dann muss man weiter. Ein Blick auf Cuongs Stadtplan, nächste Markierung: ein Kreuz am unteren Ende des Hoan Kiem Sees. Was soll denn da sein? Ah, eine Bank. Eine Bank am See. Eine Bank am See unter Tamarindenbäumen und mit Blick auf ... das ist ein Treffpunkt da vorne, mit ziemlich vielen Mopeds, und auf den Mopeds sitzt Hanois Jugend. Unter dem Hammer-und-Sichel-Plakat der Partei, deren Propagandadesigns in den Trendläden der Stadt längst als nostalgische Referenz auf T-Shirts und Kaffeetassen zitiert werden (für die Touristen gibt es stattdessen allerlei Ho-Memorabilia – er würde in seinem Glassarg drüben im Mausoleum rotieren, wenn er das wüsste). Vietnam ist ein unglaublich junges Land, über 60 Prozent seiner Einwohner sind unter 30. Und damit in einer Altersgruppe, in der die „One World“-Forderung der Global Players offensichtlich wirklich weltweit gleich gut ankommt. Hanois „Generation Handy“ telefoniert mit finnischen Smartphones, trägt amerikanische Bootcut-Jeans, liest italienische Modemagazine und träumt von deutschen Sportwagen. Bis dahin werden eben japanische Mopeds gefahren. Die beiden Mädchen, die sich gerade mit Küsschen von ihren Freundinnen verabschiedet haben, zwinkern im Vorbeifahren und hupen.

Gehupt wird hier übrigens immer, und zwar aus den unterschiedlichsten Gründen: Wenn am Horizont ein Europäer auszumachen ist, der womöglich auf ein Taxi aufmerksam gemacht werden muss. Wenn sich der Verkehr am Ende des Sehfeldes ein bisschen zu verdichten scheint. Oder wenn man einfach schon zwanzig Sekunden nicht mehr gehupt hat. Gehupt wird immer und überall, gehupt wird um des Hupens willen, nachts um vier vor dem geöffneten Hotelfenster hupen sie, in den engsten Altstadtgassen, oder wenn man selbst gerade in einem fremden Garten dabei ist, sich dem nächsten Kreuz auf dem Stadtplan zu nähern. Hanoi besitzt prächtige Bauten aus der Kolonialzeit, die Oper oder das Hotel Metropole, aber Cuong, der Maler, hat ein einfaches Haus markiert. Oder besser: eine Haushülle. Das Dach ist eingebrochen, Fenster und Türen sind mit Brettern vernagelt, nur das Efeu scheint die Mauern zusammenzuhalten. Oben am Giebel ranken verschnörkelte Verzierungen, Art Noveau-Weinreben münden im zuckenden Schweif eines asiatischen Drachens, eine Ostwest-Verbindung, wie man sie häufig in Hanois kolonialer Architektur findet. Es lässt einen an Cocktailempfänge und Melodien von Chopin denken, dieses verfallende Haus, an schwüle Nachmittage unter dem Deckenventilator und an das Glas Absinth bei Sonnenuntergang. Es ist ein Ort, an dem die Geister des alten Indochinas noch gegenwärtig sind. Und ziemlich lebendig.

Das Wetter ist umgeschlagen, es wird Regen geben, der späte Nachmittagshimmel sieht aus wie ein Teppich auf der Leine, der ausgeklopft werden will. Ein feiner Schleier aus Melancholie und Erinnerung scheint sich über Hanoi gelegt zu haben. Cuongs letzter Kreis liegt ein wenig außerhalb des Stadtzentrums, hinter einem Gemüsemarkt, dessen Stände von erschöpft aussehenden Frauen gehütet werden. Die Long Bien Brücke ist so etwas wie die Lebensader der Stadt: Über sie kommt Vietnam nach Hanoi, Obst und Gemüse von den Feldern im Umland, die Tagelöhner, die Glückssucher. Wenn man von hier nach unten schaut, blickt man auf die Basthüte der Reisbauern in ihren Feldern; sieht man nach hinten, erstrecken sich Hanois Häuser bis zum Horizont. Die Schatten werden länger, die Luft ein halbes Grad kühler. Hier draußen auf der Long Bien Brücke bricht die Nacht nicht an, wie man so gerne sagt - sie steigt wie Nebel aus der Erde. Der Tag klammert sich nach Leibeskräften fest, als habe er sich in den Kopf gesetzt, die Feier als Letzter zu verlassen. Irgendwann verschwindet die Sonne am Rand der Welt und lässt einen rötlichen Dunst über den Feldern zurück. Die Konturen verwischen. Die Skyline der Hauptstadt sieht aus, als habe sie jemand an den Abendhimmel skizziert.

Hanoi ist eine Leinwand, auf der Vietnam zeichnet, seine Sehnsüchte nach der Vergangenheit, seine Wünsche an das Heute und seine Gier nach der Zukunft. Irgendwie scheint die Stadt zerrissen zu sein zwischen dem Wunsch, die Geschichte zu konservieren und dem Drang, so sein zu wollen wie andere, und möglicherweise sogar wie Saigon im Süden. Dann wiederum wirkt es wie eine Stadt, die schon alles erlebt und gesehen hat. Die nirgendwo mehr hingehen kann, und deshalb auch keine Eile hat, dorthin zu kommen - eine Stadt auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 2010 wird Hanoi tausend Jahre alt, und die meisten davon waren keine guten. Jahrhundertelang musste sich die Stadt gegen die Chinesen erwehren, im Zweiten Weltkrieg kamen die Japaner, dann die Franzosen. Als Hanoi dachte, seine Geschichte aus Blut, Schweiß und Tränen endlich hinter sich zu haben, verdunkelten die B-52s der Amerikaner den Himmel über der Stadt. Trotzdem sieht man Hanoi sein Alter nicht unbedingt an. Man spürt es nur irgendwie.

Tausend Geschichten, sagt man, gebe es in Hanoi, für jedes Jahr seines Städtelebens eine. Die Mauern der Altstadtgassen erzählen sie, und die alten Häuser, aus deren verwitterten Dächern sie aufsteigen wie Dunst. Eine dieser Geschichten begegnet einem überall. Sie steht in den Broschüren der Touristeninformation und wird jeden Abend von den Spieler des Wasserpuppentheaters inszeniert, die Alten erzählen sie, die Jungen kennen sie längst. Es ist die Geschichte vom siegreichen Kaiser Le Thai Tho, der 1430 mit mächtigem Schwert die Chinesen aus dem Land trieb. Als er nach seinem Triumph auf dem Hoan Kiem See segelte, erschien eine Schildkröte, nahm das Schwert entgegen und brachte es auf den Grund des Sees, wo es heute noch liegen soll. Vielleicht ist diese Geschichte vom vietnamesischen Excalibur deshalb so beliebt, weil sie auch die Geschichte Hanois ist. Wenn die Schlachten geschlagen sind, scheint die Geschichte zu sagen, sollte man ruhen lassen, was gewesen ist, und sich stattdessen auf die Gegenwart konzentrieren. Da vorne, gleich um die Ecke, wartet schließlich die Zukunft. Hin und wieder aber darf man der Vergangenheit nachhängen, in Gedanken, melancholischen. –


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